In der Kribbelzone

Dr. Herbert Renz-Polster

Kind spielt auf Baum
Von steinzeitlichen Genen, natürlichen Erfahrungsschätzen und Kindern, die ihren Ängsten ungestört begegnen dürfen – Gespräch mit dem Kinderarzt, Wissenschaftler und Autor Dr. Herbert Renz-Polster.

Herr Dr. Renz-Polster, Sie behaupten, dass wir die Jahrtausende alte Geschichte unserer Kinder – also die evolutionsbiologischen Wurzeln ihrer Entwicklung - kennen müssen, um sie richtig zu erziehen. Was können Eltern von Charles Darwin lernen?

Eine ganze Menge. Beispielsweise, woher wir kommen. Eltern sind gewohnt, immer nach vorn zu schauen, in Richtung erfolgreiche Zukunft für das Kind. Es ist aber dringend nötig, auch in die Vergangenheit zu gucken. Das Muster, nach dem Kinder groß werden, ist eine Antwort auf die Herausforderungen, vor denen sie in ihrer Entwicklungsgeschichte immer wieder gestanden haben. Das ist das Prinzip der Evolution. Unsere Kinder sind auf ihren Entwicklungsweg vorbereitet.

Sie sind kleine Wilde – „born to be wild“ –, wie es in einem Ihrer Bücher heißt?

Mit einem Bein stehen sie noch in der Steinzeit. Wenn Kinder geboren werden, bringen sie viel aus einer untergegangenen Welt mit, sind gut vorbereitet auf ein Leben, das es so nicht mehr gibt. Deshalb müssen wir ihnen Brücken bauen.

Brücken, die ihnen helfen, ihre natürlichen Anlagen zu entfalten?

Genau. Das können Kinder nämlich nicht von allein, sondern nur im Rahmen von funktionierenden, verlässlichen und feinfühligen Beziehungen, in denen sie mitgestalten dürfen. In solchem Resonanzraum können sie gedeihen. Wer über kindliche Entfaltung spricht, muss aber auch über Natur sprechen.

In Ihrem gemeinsam mit dem Neurobiologen Gerald Hüther verfassten Buch „Wie Kinder heute wachsen“ plädieren Sie für die Natur als angestammten Entwicklungsraum der Kinder – dabei denken Sie aber nicht an Bullerbü, oder?

Warum denn nicht? Es ist doch wunderbar, wenn Kinder in freier Natur herumstrolchen können... aber natürlich geht es nicht nur darum. Zeit in der Natur ist Entwicklungszeit für Kinder. Natur bietet vier Elemente, die für die kindliche Entwicklung entscheidend sind: Freiheit, Widerständigkeit, Verbundenheit und Unmittelbarkeit. Kinder suchen einen Entfaltungsraum, in dem sie selbst gestalten und experimentieren können und sich selbst begegnen. Dort draußen können sie sich ausprobieren, Abenteuer und Freiheit erleben – allerdings keine Freiheit ohne Regeln. Natur setzt auch Grenzen. Kinder lernen dort, mit dem Scheitern klarzukommen und Hindernisse zu überwinden.

Kinder haben noch ihre steinzeitlichen Gene.

Man schickt die Kinder in die Natur und überlässt sie ihrem evolutionären Programm - aber die Welt hat sich verändert...

Das ändert nichts daran, dass Kinder noch ihre steinzeitlichen Gene haben, elementare Erfahrungen und Widerstände suchen. Die bietet Natur. Kinder wollen mit Wasser, Feuer, Erde und Wind experimentieren, sie wollen selbstorganisiert spielen und entdecken. Naturerfahrung ist Selbsterfahrung. Wir müssen eine Welt schaffen, in der Kinder den Elementen unkontrolliert begegnen können.

Immer mehr Waldkindergärten versuchen, diesen kindlichen Bedürfnissen gerecht zu werden...

Solche Kindergärten bieten eine große Chance. Aber „raus in die Natur“ allein reicht nicht. Pädagogik im Freien hat nichts mit Naturerfahrung zu tun. Naturkindergärten funktionieren nur, wenn Erzieher den Kindern Spielräume lassen, sich selbst zu organisieren und sie nicht mit didaktischen Programmen und Lehrpfaden traktieren. Wir unterschätzen die Kinder. Sie bilden sich selbst in der Natur – am besten ohne Dozenten.

Über Herbert Renz-Polster

Dr. Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt und assoziierter Wissenschaftler am Mannheimer Institut für Public Health der Uni Heidelberg und Autor zahlreicher Sachbücher. Mit seiner Frau und seinen vier Kindern lebt er in der Nähe von Ravensburg.

Das hat der berühmte Pädagoge Friedrich Fröbel schon im 19. Jahrhundert erkannt ...

... Der war seiner Zeit ja auch weit voraus, wusste, dass Bildung nicht verordnet werden kann, dass Selbstbildung nur in Freiheit funktioniert, durch selbsttätiges Entdecken in der vom Kind gesteuerten Wechselwirkung von „Inneres äußern“ und „Äußeres verinnerlichen“.

Bei aller Freiheit: Kann denn Bildung ganz ohne Zielvorgaben und Programme auskommen?

Natürlich brauchen Kinder Anleitungen und Angebote. Die saugen sie ja regelrecht auf, aber auf der Grundlage von funktionierenden Beziehungen zu Erwachsenen und anderen Kindern. Das ist ihr Entwicklungskapital. Beziehungen funktionieren aber nur, wenn sie verlässlich sind und gemeinsam gestaltet werden – nicht durch Regeln und Vorgaben. Kinder lernen nicht von oben nach unten und schon gar nicht, wenn sie zu Leistungen angetrieben werden.

Sie halten wohl nicht viel vom derzeitigen Bildungsbegriff der Pädagogik?

Da geht es viel zu sehr um die Vermittlung kognitiver Kompetenzen - und das so früh wie möglich. Kinder müssen aber in erster Linie elementare Fähigkeiten erwerben, die sie ein Leben lang tragen. Sie müssen lernen, ihre Emotionen zu steuern und mit anderen Menschen auszukommen. Auch Kreativität und innere Stärke gehören zum natürlichen Lehrplan, dass sie ihre Lust auf Neues ausleben und bei Widerständen nicht gleich aufgeben. Der Aufbau dieser Fundamentalkompetenzen kann in keiner anderen Lebensphase nachgeholt werden. Ihre Erfahrungsschätze müssen die Kinder in eigener Regie heben, ohne didaktisches Programm, am besten in der Natur. Die Erwachsenen können nur den Rahmen schaffen, Kindern die Möglichkeit geben, sich selbst zu begegnen. Wenn das Fundament gelegt ist, kommt alles andere von selbst.

Ihnen ist vorgeworfen worden, dass Sie die Aufgaben von Eltern und Pädagogen geringschätzen ...

Das tue ich keineswegs. Gemeinsam den Alltag gestalten, ist eine hochkomplexe Angelegenheit. Was für eine Herausforderung ist es beispielsweise für eine Erzieherin, den Kindern nicht in Alu angeliefertes Essen zu servieren, sondern gemeinsam mit ihnen die Mahlzeit zu gestalten. In einem beziehungsvollen Miteinander greifen Eltern und Erzieher die Themen der Kinder auf. Wenn die Beziehungen klappen, funktioniert kindliches Lernen. Wenn wir uns aber nur auf kindliches Lernen fixieren und darauf, die Kinder bereits im Vorschulalter für den künftigen Wettbewerb fit zu machen, ist Scheitern vorprogrammiert.

Was empfehlen Sie ratlosen Eltern, die in der Frühförder-Mühle feststecken?

Auf ihre Kinder zu hören, mit ihnen gemeinsam auf Entdeckungsreise zu gehen, sich mit ihnen zusammen um etwas zu kümmern.

Naturferne schadet Kindern.

Macht Naturferne Kinder krank?

Auf jeden Fall schadet sie. Wir sind von unserem biologischen Erbe her eingestellt auf ein aktives, bewegtes Leben. Kinder, die in einem emotional sicheren Umfeld aufwachsen, werden mutig, gehen auf Entdeckungsreise, suchen Herausforderungen. Sie wollen wirksam und unternehmerisch sein, ausprobieren, was sie gerade gelernt haben. Solche Erfahrungen steuern sie aber nur an, wenn sie Auslauf haben und sich auf Augenhöhe mit anderen Kindern selbst organisieren können.

Sie suchen die Kribbelzone, wie Sie das nennen?

Diese Zone, wo sich Entdeckungslust und Angst die Waage halten, steuern Kinder ganz bewusst an. Wie gesagt: Sie wollen ihren Ängsten begegnen – besonders im magischen Alter zwischen drei und sechs Jahren - und sie sind glücklich, wenn sie ihr Abenteuer selbständig bestanden haben. Übrigens: Die Kribbelzone kann nicht verordnet werden, sie ist ein natürliches Bedürfnis.

Publikationen von Herbert Renz-Polster

  • 1
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    Menschenkinder. Plädoyer für eine artgerechte Erziehung

    Autor: Herbert Renz-Polster

    Kösel-Verlag,

  • 2
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    Kinder verstehen. Born to be wild – wie die Evolution unsere Kinder prägt

    Autor: Herbert Renz-Polster

    Kösel-Verlag,

  • 3
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    Wie Kinder heute wachsen: Natur als Entwicklungsraum

    Autor: Herbert Renz-Polster und Gerald Hüther

    Beltz Verlag,

  • 4
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    Die Kindheit ist unantastbar

    Autor: Herbert Renz-Polster

    Beltz Verlag,

Etwa 10 Millionen Kinder weltweit bekommen Ritalin gegen ADHS, in Deutschland sind es rund 700 000 – und das, obwohl der wissenschaftliche Beweis für den biologischen Ursprung der Krankheit nicht erbracht ist. Hilft Natur gegen ADHS?

Da bin ich kein Spezialist. Aber ein Aspekt bei ADHS ist sicherlich, dass Kinder in Umwelten funktionieren müssen, die nicht kindgerecht sind. Stundenlanges Stillsitzen und Zuhören gehört ganz sicher nicht zum evolutionären Programm in der mittleren Kindheit, da sind manche Kinder einfach überfordert. Vergleicht man die jüngeren Schüler in einer Klasse mit den relativ älteren, so haben die jüngeren häufiger eine ADHS-Diagnose. Das deutet aber nicht immer darauf hin, dass da eine Krankheit des Kindes diagnostiziert wird, sondern manchmal auch eine „Krankheit" des Schulsystems.

Sie selbst haben vier Kinder ...

... die viel Kontakt mit Natur hatten. Ich erinnere mich an die Begeisterung meines Sohnes, der sich nach und nach eine Kiefer „eroberte“, indem er versuchte, immer höher hinauf zu klettern – für uns Eltern der reinste Horror, wenn er zuhause stolz davon erzählte. Er aber empfand diesen Baum bei jedem geglückten Versuch ein Stück mehr als seinen Baum, seine Heimat.

Kind spielt im Matsch

Wie sind Sie denn auf Ihren evolutionsbiologischen Ansatz in der kindlichen Entwicklung gekommen?

Ich habe in den USA über Allergien geforscht. Die haben keinen evolutionären Sinn, nehmen aber ständig zu, weil die Entwicklung des kindlichen Immunsystems auf eine Umwelt eingestellt ist, die es nicht mehr gibt. Das Immunsystem wird nicht als fertiges Produkt geliefert, sondern muss als elementarer Bausatz langsam gebildet werden – durch den Kontakt etwa mit Mikroben und Parasiten, mit denen sich das kindliche Immunsystem heute aber nicht mehr auseinandersetzen muss. Von dort war es ein kleiner Schritt, auch kindliche Verhaltensweisen mit uralten Programmen in Verbindung zu bringen.

Sie sprechen aber nicht vom „Naturerbe“, sondern vom „Weltkulturerbe“ der Kindheit...

Aus gutem Grund. Weil wir Kindern eine Kindheit ermöglichen müssen, die diesen Namen auch verdient. Für den Aufbau ihrer fundamentalen Kompetenzen brauchen sie keine Leistungszwänge, sondern Freiräume für natürliche Aktivitäten. Ihre früh erworbenen Erfahrungsschätze werden ihnen später helfen, das Leben zu meistern, von dem wir heute ja noch gar nicht wissen, wie es aussehen wird.

Das Gespräch führte Susanne Kunckel