Natur tut Kindern einfach gut

Dr. Ulrich Gebhard

Kinder spielen mit Steckenpferden
Gespräch mit dem Erziehungswissenschaftler und Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten Professor Dr. Ulrich Gebhard über Urvertrauen, kindliche Sehnsucht nach Wildnis und Naturerfahrung, die nicht verordnet werden kann.

Herr Professor Gebhard, wieviel Natur brauchen Kinder?

Das ist eine schwierige Frage. Allerdings häufen sich Hinweise, dass Naturerfahrungen Kindern in körperlicher und seelischer Hinsicht gut tun – gerade in Industrienationen.

Warum ist die Frage schwierig?

Zum einen ist es schwierig zu bestimmen, was der Mensch an Naturerfahrungen wirklich „braucht“, weil diese Frage geradezu eine anthropologische Dimension hat. Zum anderen gibt es in Industrienationen kaum noch „reine“ Naturerfahrungen, weil die Natur stark kulturell überformt ist und Naturerfahrungen immer auch Kulturerfahrungen sind. Die Frage nach der Bedeutsamkeit von Naturerfahrungen wird zusätzlich dadurch kompliziert, dass die Persönlichkeit des Menschen meistens als das Ergebnis der Beziehung zu sich selbst und der Beziehung zu anderen Menschen verstanden wird.

Die Erfahrungen, die Kinder in den ersten Lebensjahren mit vertrauten Bezugspersonen machen, bestimmen wesentlich die Persönlichkeit.

Was bedeutet das für die Persönlichkeitsentwicklung?

In unserer Persönlichkeitsstruktur verdichten sich die Erfahrungen mit uns selbst und den anderen Menschen. Die nichtmenschliche Umwelt – also Gegenstände, Pflanzen, Tiere, Natur, Landschaft – spielt in einem solchen, gleichsam zweidimensionalen Persönlichkeitsmodell nur eine untergeordnete Rolle. Die Erfahrungen beispielsweise, die Kinder in den ersten Lebensjahren mit vertrauten Bezugspersonen machen, bestimmen wesentlich die Persönlichkeit und auch, mit welcher Tönung und Qualität die Welt wahrgenommen wird. Dafür hat Erik H. Erikson den Begriff „Urvertrauen“ eingeführt.

Können Erfahrungen, die Kinder in der Natur machen, Auswirkungen auf dieses „Urvertrauen“ haben?

Das ist in der Tat eine entscheidende Frage. Vor dem Hintergrund eines dreidimensionalen Persönlichkeitsmodells der Ökologischen Psychologie und der theoretischen Annahmen der Psychoanalyse kann man durchaus davon ausgehen, dass auch die nichtmenschliche Umwelt, die Welt der Dinge, eine psychodynamische Bedeutung hat. Es geht dabei um den Gedanken, dass die Vertrautheit mit der Welt sich auch als das Ergebnis einer gelungenen Beziehung zur Welt der Dinge – dabei spielt die Natur eine nicht unwesentliche Rolle – verstehen lässt, dass unser Leben also im Sinne des Wortes „bedingt“ ist.

Der Baum im Garten überdauert die Zeitläufe der Kindheit und steht so für Kontinuität.

Und welche Bedeutung haben die Dinge?

Dinge sind für die Subjekte nicht nur objektive Gegebenheiten, sondern in gewisser Weise auch Interaktionspartner. Dadurch werden sie zu Elementen eines persönlich gedeuteten Lebens und erhalten eine emotionale Bedeutung. Die haftet symbolisch den Dingen an, womit sie Ausdruck unserer Deutungsmuster gegenüber der Welt sind. Die Vertrautheit mit den Dingen konstituiert also ein Weltbild, das etwas mit unserem Lebensgefühl zu tun hat. Auch in Naturerfahrungen kann dieses Lebensgefühl zum Tragen kommen. Das hätte dann auch eine sehr praktische Dimension: Die Frage nach „Naturbedürfnissen" ist beispielsweise bedeutsam für den Städtebau, die Landschaftsplanung, den Zugang zu Wäldern oder die Architektur von öffentlichen wie privaten Gebäuden. Es ist letztlich die Frage, wie sich äußere Natur in der inneren Natur des Menschen repräsentiert und was das für Folgen hat.

Über Ulrich Gebhard

Professor Dr. Ulrich Gebhard studierte zunächst Biologie, Germanistik und Erziehungswissenschaften, schloss ein psychoanalytisches Studium an und promovierte über „Naturwissenschaftliches Interesse und Persönlichkeit“. Er habilitierte sich mit dem Thema „Kind und Natur. Zur Bedeutung von Naturerfahrungen in der Kindheit“ und lehrt an der Universität Hamburg.

Was bietet eine naturnahe Umgebung Kindern?

Sie lädt Kinder zur Erkundung ein, weil sie neu und interessant ist, gleichzeitig aber vertraut. In zahlreichen Untersuchungen zur Kleinkindentwicklung wird die Bedeutung einer vielfältigen Reizumgebung betont. Neben der Entwicklung des Gehirns werden durch eine „reizvolle“ Umwelt auch psychische Entwicklungsschritte angeregt und gefördert. Ideal ist es, wenn sich vertraute und fremdartige Reize ergänzen. Natürliche Strukturen haben eine Vielzahl von Eigenschaften, die für die psychische Entwicklung gut sind: Die Natur verändert sich ständig und bietet zugleich Kontinuität. Sie ist immer wieder neu, beispielsweise im Wechsel der Jahreszeiten. Gleichzeitig bietet sie die Erfahrung von Verlässlichkeit und Sicherheit: Der Baum im Garten überdauert die Zeitläufe der Kindheit und steht so für Kontinuität.

Die Vielfalt der Formen, Materialien und Farben regt die kindliche Phantasie an?

Sie animiert Kinder dazu, sich mit der Welt und mit sich selbst zu befassen. Das Herumstreunen in Wiesen und Wäldern, in sonst ungenutzten Freiräumen, kann Sehnsüchte nach „Wildnis" und Abenteuer befriedigen. Man kann davon ausgehen, dass es beim Menschen sowohl einen grundlegenden Wunsch nach Bindung und Vertrautheit als auch ein ebenso grundlegendes Neugier-Verhalten gibt. Beide Bedürfnisse kommen in der Natur zu ihrem Recht.

Kinder entdecken Schnee

Der Biologe und Naturphilosoph Andreas Weber behauptet, dass Natur ein Spiegel ist, in dem Kinder sich selbst erkennen, dass Kinder, die im Matsch wühlen oder Frösche fangen, hautnah mit der Existenz konfrontiert sind und Naturerfahrungen ihnen dabei helfen, ihre Identität zu entwickeln. Teilen Sie diese Ansicht?

Ich teile sie, begründe sie aber anders. Ich glaube nicht, dass die Natur ein tatsächlicher Spiegel ist, der spiegelt, weil die Natur so ähnlich ist wie wir selbst. In der Natur erfahren wir uns selbst, weil sie Anlass ist, uns auf uns selbst zu beziehen. Dabei spielen die symbolischen Bedeutungen, die wir der Natur geben, eine zentrale Rolle. Die Natur stellt uns sozusagen einen Symbolvorrat für Selbst- und Weltdeutungen zur Verfügung. Diese symbolische Dimension unserer Naturbeziehungen ist für den Menschen als „animal symbolicum“ nicht unbedeutend, denn gerade der symbolische Weltzugang eröffnet Sinnstrukturen. In diesem Kontext ist auch bedeutsam, dass Kinder, übrigens auch Erwachsene, die Natur beziehungsweise einzelne Elemente in ihr beseelen. Das betrifft insbesondere Naturphänomene, vor allem Tiere. Mit dieser Anthropomorphisierung ist zum einen eine Moralisierung von Natur, zum anderen eine identitätsstiftende Funktion verbunden. Durch symbolisierende, anthropomorphe Naturdeutungen werden Naturerfahrungen persönlich bedeutsam und damit zu einem Element der Identitätsentwicklung. Auf symbolische Weise fühlt man sich bei Naturerlebnissen „gemeint“ und angesprochen. Das gilt bei der Wirkung von Landschaften ebenso wie bei der Beziehung zu Haustieren und Pflanzen, die subjektiv als bedeutungsvoll interpretiert werden.

Zum Weiterlesen

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    Wie viel „Natur“ braucht der Mensch?

    Autor: Ulrich Gebhard

    Freiburg: Alber, S. 249–274,

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    Kind und Natur.

    Autor: Ulrich Gebhard

    Springer-VS-Verlag, Wiesbaden,

Zeit in der Natur ist Entwicklungszeit für Kinder?

Ja, weil sie vertraut und verlässlich ist und die Neugier anregt. Hinzu kommt noch der soziale Aspekt. In der Natur spielen Kinder länger, lieber und weniger allein. Gemeinsam mit anderen Kindern erleben sie Gemeinschaft – das fördert die soziale Integration. Dabei ist es ganz eindeutig so, dass die positiven Wirkungen von Naturerfahrungen sich vor allem dann entfalten, wenn damit das Gefühl von Freiheit und Abenteuer verbunden ist. Am meisten werden von Kindern die Freiräume geschätzt, die von den Erwachsenen gewissermaßen „vergessen“ wurden.

Wieviel Didaktik braucht Naturbildung?

Wie gesagt: Ein wesentliches Moment von Naturerfahrungen ist die Freizügigkeit und Unkontrolliertheit. Das gilt auch für die Pädagogik und Didaktik. Es ist der Freiraum, der die Natur für Kinder so attraktiv macht. Naturnähe ist oft schon da, sie braucht mehr das Interesse der Erwachsenen und die großzügige Gewährung als die allzu pädagogische und didaktische Geste.

Können Kinder in der Natur auch lernen, mit dem Scheitern klarzukommen?

Scheitern ist vielleicht zu viel gesagt. Aber sie machen die Erfahrung, dass andere Wesen nicht nur dem kindlichen Willen folgen. Das kann Kinder lehren, dass sie nicht der Mittelpunkt der Welt sind, dass andere Wesen eigensinnig sind, dass man sich arrangieren muss, will man gute Erfahrungen machen. Wichtig ist, dass solche Erfahrungen, die gleichsam zur Bescheidenheit anhalten, völlig ohne moralisierende Erziehung durch Erwachsene auskommen.

In der Natur spielen Kinder länger, lieber und weniger allein.

Gehört zur Naturerfahrung auch das Erkennen von Vögeln an ihrem Gesang, die Bestimmung von Blumen, Spurenlesen etc.?

Das kann, muss aber nicht notwendig dazugehören. Oft ist es ein Ausdruck von Beziehung, wenn man Pflanzen und Tiere kennt und gewissermaßen mit Namen anreden kann. Bei Naturerfahrungen in besagten Brachflächen oder „wilden“ Freiräumen ist das sicherlich nicht die Hauptsache.

Tatsächlich verbringen aber viele Kinder heutzutage immer weniger Zeit in der Natur ...

Das kann man so nicht sagen, auch wenn Computer und Fernsehen eine starke Faszination ausüben und anderen Freizeitbeschäftigungen Konkurrenz machen. Nach wie vor ist das Spielen im Freien sehr beliebt. Eine Befragung von über 2000 Kindern zwischen 9 und 14 Jahren belegt, welche Wirkung Kinder selbst ihren Naturerfahrungen zuschreiben. Bemerkenswert ist dabei, dass die meisten von ihnen Natur und Umwelt als wichtigsten positiven Aspekt ihrer Wohnumgebung nennen. Fast dreiviertel der Kinder meinen, in der Natur so sein zu können, wie sie sind. Selten haben sie Angst in der Natur. Das gilt auch für den Wald.

Welchen Einfluss haben Naturerfahrungen auf die Entwicklung geistig-kognitiver Fähigkeiten?

Es gibt Hinweise, dass sich Naturerfahrungen positiv auf die Konzentrationsfähigkeit auswirken. Waldspaziergänge sind in dieser Hinsicht mehrfach untersucht worden. Auch aus Waldkindergärten kommen diesbezügliche Berichte. Es hat sich gezeigt, dass Kinderspiel in sogenannten Naturerfahrungsräumen komplexer, kreativer und selbstbestimmter ist.

Kinder spielen an einem Baum

Gibt es Naturerfahrungen, die für Kinder wertvoller sind als andere?

Beliebt sind Bäume, Wasser und Tiere. Das Wichtigste aber ist die Freizügigkeit. Auch mit scheinbar wenig attraktiven städtischen Brachflächen, wie Hinterhöfen oder Ruinen, können Kinder etwas anfangen. Wesentlich ist, dass niemand sie kontrolliert oder versucht, ihre Erfahrungen zu lenken. Naturerfahrung kann nicht verordnet werden. Wenn Natur zum Lernort umfunktioniert wird, kann sie ihre Wirkung nicht entfalten.

Was sagen Sie Eltern, die freies und unbeaufsichtigtes Spiel in der Natur für gefährlich halten?

Die Angst ist unbegründet. Beim Spiel in der Natur passieren weniger Unfälle als auf DIN-genormten Spielplätzen. Offenbar wird durch das Spiel in der Natur selbstverantwortliches Verhalten geübt. Noch ein sozialer Lerneffekt von Naturerfahrungen.

In Amerika plädieren Pädagogen dafür, eine „Naturmangelstörung“ in den Katalog kindlicher Entwicklungsstörungen aufzunehmen, um das Thema Naturerfahrung in Kitas und Schulen
voranzutreiben ...

Das halte ich für übertrieben. Eher sollte man die positiven, gesundheitsförderlichen Aspekte von Naturerfahrungen im Sinne der Ermöglichung eines guten Lebens stark machen und nicht ein neues pathologisches Syndrom als Menetekel an die Wand malen. Die Pathologisierung von Kindern ist nicht förderlich. Die Ermöglichung von Naturerfahrungen sehe ich eher als eine politische Aufgabe für die Raum- und Städteplanung. Naturerfahrungen sind doch kein Notprogramm, um Schäden zu vermeiden – sie sollen Spaß machen.

Naturerfahrung kann nicht verordnet werden.

Werden naturerfahrene Kinder umweltbewusstere Erwachsene?

Häufig wird mit dem Plädoyer für Naturerfahrungen auch die Hoffnung verbunden, dass Naturerfahrungen und Umweltbewusstsein positiv zusammenhängen. Viele empirische Studien zeigen in der Tat, dass Naturerfahrungen in der Kindheit wichtig sind für das spätere Engagement in Umwelt- und Naturschutz. Der zentrale Gedanke dabei ist, dass unser Gefühl für die Natur eher von positiven Erlebnissen und von Intuitionen als von rationalen Argumenten geprägt wird. So ist es folgerichtig, in der Naturschutzdebatte die erlebnisbezogene und intuitive Ebene wieder salonfähig zu machen. Ich gehe davon aus, dass Naturerlebnisse vor allem und primär die Intuition beeinflussen und erst nachträglich und nicht notwendig die Reflexion. Allerdings ist das für mich nicht der zentrale Punkt. Im Gegenteil: Mir geht es eher darum, dass wir davon ausgehen können, dass Naturerfahrungen einfach gut tun, aber nicht, weil wir die Kinder damit moralisieren. Die Wirkung von Natur erfüllt sich nebenbei, beim selbständigen, unkontrollierten Spiel, in dem Kinder ihre Phantasien und Träume schweifen lassen können.

Das Gespräch führte Susanne Kunckel.