Abenteuer Natur im Museum

Prof. Johannes Vogel

Junge im Naturkundemuseum
Was wir von Bruzelia vogeli, Kentosaurus, Knut & Co. lernen können. Gespräch mit dem Generaldirektor des Berliner Naturkundemuseums Professor Johannes Vogel.

Herr Professor Vogel, wie ist Ihr Verhältnis zur Natur?

Sehr eng. Schon als kleiner Junge bin ich mit meinem Vater gern durch den Wald gestreift, habe Rehe gefüttert, Pflanzen gesammelt und Tiere in freier Wildbahn studiert. Die Natur war mein Spielplatz. Mit 13 trat ich in einen naturwissenschaftlichen Verein ein und wollte unbedingt Zoodirektor in Frankfurt werden, wie Professor Grzimek ...

Prof. Johannes Vogel

Das hat ja nicht geklappt, dafür „hegen“ Sie nun statt 3000 Lebewesen im Zoo 30 Millionen im Museum. Wie kommt ein Biologe als Wissenschaftler des Lebens auf die Idee, sich der toten Natur zu verschreiben?

Da liegen Sie vollkommen falsch. Naturkundemuseen sind keine Institutionen des Todes, sondern Orte des Lebens und der Zukunft.

Natur ist greifbar – auch in der Stadt.

Und warum heißt die berühmte Institution in London, wo Sie Abteilungsdirektor waren, Natural History Museum – schon der Name verweist ja auf Vergänglichkeit?

Er führt auf die falsche Spur. Denn Naturkundemuseen blicken nach vorn, nicht zurück. Dort wird geforscht. Sie verfügen über Sammlungen und bieten die Infrastruktur, um relevante, in die Zukunft gerichtete Themen zu untersuchen. Deshalb bekommen wir ja Forschungsgelder, die in Wettbewerbsverfahren vergeben werden.

Welche Rolle spielen Naturkundemuseen für die Naturbildung?

Wir sprechen Menschen emotional an, konfrontieren sie in Ausstellungen mit Natur in vielen Facetten, um dann über die Wissenschaft in einen rationalen Dialog zu kommen. Interesse und einen Bewusstseinswandel kann man aber nur erzielen, wenn man Menschen zunächst emotional erreicht. Naturkundemuseen produzieren Wissen. Sie sind aber auch Mittler zwischen Wissenschaft und Gesellschaft.

Und was ist das Besondere am Berliner Naturkundemuseum?

Vor allem unsere spannenden Ausstellungen – gerade sind hier in einer Sonderschau „Die Fliegen“ los, die viel mehr sind als lästige Plagegeister und Krankheitsüberträger... und dann natürlich unsere vier Forschungsbereiche: Evolution / Geoprozesse, Sammlungsentwicklung / Biodiversitätsentdeckung, Digitale Welt / Informationswissenschaft sowie Wissenschaftskommunikation / Wissensforschung. Wir sind ein Forschungsmuseum, erforschen übrigens auch, wie wir mit unseren Besuchern am besten in Dialog treten können.

Scharen von begeisterten Kindern zwischen den riesigen Dinosaurierskeletten von Brachiosaurus, Kentosaurus & Co oder beim Gorilla Bobby und dem Eisbären Knut zeigen, dass der Dialog funktioniert.

Ja, kleine Kinder streben instinktiv nach Naturbildung. Die kommen sowieso, mit ihren Eltern und Großeltern. Wir wollen aber auch die etwas älteren und die Teenager anziehen, beispielsweise mit unserem Mikroskopier-Zentrum. Allein dort erkunden 6000 Schüler im Jahr bei uns die Natur, und das Museum geht in die Schulen, zurzeit vor allem in Berlin-Wedding. Solche Partnerschaften wollen wir weiter ausbauen, um auch Kinder aus bildungsfernen Schichten oder mit Migrationshintergrund für die Natur zu begeistern.

Liebe zur Natur kann nicht verordnet werden, sie muss wachsen.

Für viele Stadtmenschen liegt Natur außerhalb ihrer täglichen Erfahrungswelt ...

... dabei tummeln sich in Berlin wieder Wildschweine und Füchse. Sogar Wölfe kommen immer näher. Die Natur ist greifbar – auch in der Stadt. Ich will in den nächsten Jahren versuchen, mit Partnern das Thema Natur und Mensch in und um Berlin stärker ins Visier zu nehmen.

Zurück ins Museum: Sollten Museumsbesuche fester Bestandteil der Stundenpläne von Schulen werden?

Auf jeden Fall müssen Natur und das Lernen an der Natur im Rahmen von Bildungsdiskussionen einen viel größeren Raum einnehmen – von der Kita bis zum Abitur. Und noch eins: Liebe zur Natur kann nicht verordnet werden, sie muss wachsen. Dazu muss man aber erstmal ihre Komplexität vermitteln. Ein Naturkundemuseum bietet da unerschöpfliches Material, eine Schatztruhe der Evolution. In unseren Vitrinen lagert enormes Wissen, in unseren Ausstellungen versuchen wir, das Abenteuer Natur in Geschichten zu erzählen, beim Mikroskopieren können Kinder die Natur untersuchen. Der Reichtum des Museums muss allen zugänglich gemacht werden: dem Wissenschaftler, dem Kind, der Großmutter. Im Idealfall ist das Museum eine gesellschaftliche Begegnungsstätte.

Über Johannes Vogel

Professor Johannes Vogel studierte Biologie an den Universitäten in Bielefeld und Cambridge. Er promovierte im Bereich Genetik und arbeitete von 1992 bis 2012 am Natural History Museum in London. Seit 2012 ist er Generaldirektor des Museums für Naturkunde in Berlin und Professor für Biodiversität und Wissenschaftsdialog an der Humboldt Universität. Vogel ist Vorsitzender der European Citizen Science Association und stellvertretender Vorsitzender des Bioökonomierates der Bundesregierung.

Ein Museum, das zum Bürger geht?

Ja, aber nicht, um ihn zu belehren, sondern um ihn bei der Beantwortung von Fragen über seine Umwelt zu unterstützen.

Sie laden Ihre Besucher zur Forschungsreise ein – wie geht das?

Ganz einfach. Wir gehen sparsam mit der Beschilderung der Ausstellungen um. Im Vordergrund stehen die Objekte, die so inszeniert sind, dass sie zum Nachdenken herausfordern und zur eigenen Urteilsbildung.

Geradezu mystisch mutet der abgedunkelte Raum an, der in 276 000 Gläsern und 80 Tonnen Alkohol eine Millionen konservierter Tieren beherbergt.

Dort beobachte ich häufig, dass unser Konzept funktioniert: Kinder und Eltern betrachten die Objekte, rätseln und reden darüber, was sie sehen. Jeder kann seine eigene Entdeckung machen, sich dann mit den anderen darüber austauschen. Da hat Papi nicht die Erklärungshoheit. Neugier und Interesse werden geweckt. So funktioniert menschliches Lernen, nicht über vorgekaute Information.

Kinder spielen mit Blättern

Stimmt es eigentlich, dass eine Flohkrebsart Ihren Namen trägt?

Ja. Bruzelia vogeli ist eine von 13 bis dahin unbekannten Flohkrebsarten aus der Antarktischen Ross See in unserer Sammlung, die zwei Kollegen zwei Jahre lang erforschten. Übrigens: Auch die restlichen zwölf der neu bestimmten Arten sind Instituts-Kollegen gewidmet, und alle fühlen sich geehrt.

Zu Ihren Schätzen zählen ein Exemplar des Urvogels Archaeopteryx und ein Mineral, an dem erstmals Uran beschrieben wurde. Welches ist denn Ihr Lieblingsstück?

Am liebsten stehe ich vor der Biodiversitätswand. Dort ist die Vielfalt des Lebens abgebildet, vom Korallentierchen über den Schuhschnabel bis zum Geparden. Wir haben 30 Millionen Objekte im Haus, weniger als 10 000 davon werden gezeigt, aber ein Drittel der ausgestellten Objekte ist in dieser Biodiversitätswand sichtbar.

Apropos Vielfalt: Vor 155 Jahren veröffentlichte Charles Darwin sein Hauptwerk „Die Entstehung der Arten“, das damals wie eine Bombe einschlug und die Sicht auf das Leben veränderte.

Vor allen Dingen hat Darwin uns gezeigt, dass wir als Menschen Teil der Natur sind und einen Weg finden müssen, mit ihr auszukommen.

Sie sind mit Sarah Darwin, der Ururenkelin des Evolutionsforschers, verheiratet. Ihre Frau erforscht Galapagos-Tomaten?

Der Artenreichtum auf Galapagos inspirierte Darwin einst zu seinem berühmten Werk. Die dortige Pflanzenwelt war eines seiner Forschungsobjekte. Meine Frau interessierte sich mehr für die bedrohten Tomaten auf Galapagos. Zwei Arten sind dort endemisch. Übrigens: Mit jedem Tomatensalat essen wir Galapagos-Gene.

Forschungsschwerpunkte

Die wissenschaftlichen Forschungsschwerpunkte von Johannes Vogel liegen in den Bereichen:

  • Wissenschaftsdialog
  • Nationale und internationale Forschungspolitik
  • Biodiversität
  • Evolutionsbiologie der Pflanzen
  • Rolle von Museen in Wissenschaft und Gesellschaft

Eine halbe Million Menschen kommen jährlich ins Berliner Naturkundemuseum. Reicht Ihnen das?

Nur 6000 Quadratmeter des Museums werden derzeit genutzt, das sind 10 Prozent der Gesamtfläche des vor 125 Jahren eröffneten Hauses. Wenn wir mit den Bauarbeiten fertig sind, werden rund 30 Prozent des Hauses renoviert sein, das heißt: Wir können über 25 000 Quadratmeter verfügen und Deutschlands besucherstärkstes Museum werden.

Zu den weltweit führenden Institutionen auf dem Gebiet der Biodiversitätsforschung zählt es längst. 30 Millionen Objekte sind hier für die Ewigkeit präpariert ... und draußen schreitet das Artensterben besorgniserregend voran. Jede Sekunde verschwindet eine Regenwaldfläche von der Größe eines Fußballfeldes.

Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen, und es scheint keinen politischen Willen zu geben, das zu ändern. Dabei brauchen wir dringend eine Diskussion über die Werte in unserer Gesellschaft. Konsum, Spaß und individuelle Verwirklichung auf Kosten anderer bringen uns nicht weiter. Doch erst, wenn wir uns darauf geeinigt haben, welche Werte wir brauchen, um mit der uns tragenden Umwelt für die nächsten tausend Jahre zu leben, können wir uns überlegen, welche Politik wir brauchen, um diese Werte auch zu leben. Diese Diskussion muss angeregt werden, die können wir auf keinen Fall wegdrücken.

Was ist für Sie aus wissenschaftlicher Sicht die größte Herausforderung?

Als Ban Ki-moon sein wissenschaftliches Beratergremium vorstellte, war ich eingeladen. Da hat sich einer nach dem anderen vorgestellt. Am Ende war mir klar, dass wir nicht noch mehr Wissenschaft brauchen, sondern handeln müssen. Das Wissen, das wir haben, müssen wir umsetzen und zwar so, dass es sich in gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten niederschlägt.

Wir sind von der Erde abhängig, nicht umgekehrt, und wir müssen endlich lernen, nachhaltig mit unserer Welt umzugehen.

Im Rahmen von Naturschutz wird viel über Nachhaltigkeit gesprochen, ein abstrakter Begriff ...

... für ein konkretes Problem. Wir verbrauchen ein Vielfaches der Ressourcen und Energie, die uns die Welt zur Verfügung stellt, um einen ungleich verteilten Lebensstandard zu halten. Kurz gesagt: Wir verbrauchen mehr, als die Erde hergibt. Sie ist aber der einzige Planet, den wir haben. Wir müssen ihn schützen, damit er weiterhin für Menschen bewohnbar bleibt. Wer will schon auf den Mars auswandern? Wir sind von der Erde abhängig, nicht umgekehrt, und wir müssen endlich lernen, nachhaltig mit unserer Welt umzugehen.

Können wir uns in puncto Nachhaltigkeit ein Beispiel an den Fliegen nehmen, die bis zum 15. Januar durch Ihre Ausstellung schwirren?

Die kleinen Biester sind etwas ganz besonderes und unermüdlich im Einsatz. Es lohnt sich, aus der Nähe zu betrachten, wie die Fliegen einen Waschbär-Kadaver zerlegen, als natürliche Putzkolonne. Diese Insekten sind unsere Gesundheitspolizei. Würden sie den Hundekot nicht entsorgen, müsste Berlin im Dreck ersticken.

Das Gespräch führte Susanne Kunckel